Schönheitsideale im Laufe der Zeit
Im April 2019 konnte man förmlich spüren, wie die Welt des bekanntesten Modemagazins in ihren Grundfesten erschüttert wurde. „Cara Delevigne zeigt Achselhaar: JA zur Körperbehaarung!“ schrieb die VOGUE https://www.vogue.de/beauty/artikel/cara-delevingne-achselhaar. Das „JA“ mit zwei Großbuchstaben und das Ausrufezeichen fett hinter der Überschrift. Es klang so ein bisschen nach einer Mischung zwischen Entsetzen („wie kann sie nur!“) und einer Art Befreiung („endlich traut sich mal eine!“). Für jeden, der nicht mit der Modewelt und den aktuellen Trends auf Du und Du steht, eine Aufregung, die nur schwer nachzuvollziehen war. Wahrscheinlich hatte Frau Delevigne – die ja auch gerne mal das enfant terrible der Modeindustrie gibt – nichts anderes getan, als der Natur ihren Lauf gelassen und die Haare in ihren Achseln mal nicht gestutzt. Dann hat sie das mit einer Kamera fotografieren lassen und veröffentlicht. Wahrscheinlich auf einem ihrer Social-Media-Kanäle. Und sie hatte genau das erreicht, was sie erreichen wollte: Aufmerksamkeit. Wer sich aber die Mühe machte und den Artikel gelesen hat, der stellte fest: Falsch gedacht. Cara Delevigne trug eine sogennante „Armpit Wig“ also eine Achselhaarperücke. Die brauchte sie für ihre Rolle in einem Independent-Film über eine Punkband in den 90er Jahren. Und da trug man eben noch Achselhaar. Ja – es ist noch gar nicht so lange her, dass Haarlosigkeit nicht die Grundvoraussetzung für augenscheinliche Schönheit ist. Ein schönes Beispiel dafür, dass das, was heute schön ist, es morgen auf keinen Fall sein wird.
Trends und Ideale – ein Unterschied
Um es vorweg zu nehmen: Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen einem Trend und einem Schönheitsideal. Der Trend ist sozusagen der Startpunkt, von dem alles ausgeht. Diejenigen, die davon sprechen, man könne Trends setzen, die befinden sich auf dem Holzweg. Niemand „setzt“ Trends. Weder ein Modemagazin noch eine Influencerin. Das, was große Labels und Magazine tun, ist hochbezahlte Trendscouts beschäftigen, die möglichst früh den nächsten Trend erkennen und ihn dann für ihre Auftraggeber nutzbar machen. Wirklich gute Trendscouts sind selten und hochbezahlt. Denn Trends sind deshalb so schwer zu greifen, weil sie sich von selbst entwickeln und dann zu irgendeinem Zeitpunkt wie aus dem Nichts auftreten. Durch ein Foto, durch eine prominente Persönlichkeit oder durch eine gewisse soziale Strömung.
Ob aus dem Trend ein Schönheitsideal wird, entscheidet sich aufgrund der Frage, inwieweit er in die jeweilige Gesellschaft passt. Denn grundlegend für ein Schönheitsideal ist, dass es massentauglich ist. Es muss deshalb der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Stimmung entsprechen, die zu einer gewissen Zeit vorherrscht. Wem das zu theoretisch und zu weit hergeholt scheint, der kann gerne den Selbstversuch machen, indem er sich Bilder aus seiner Kindheit und Jugend ansieht. Gerade diejenigen, die die 40 überschritten haben, stoßen hier auf einen Fundus an Outfits und Haarschnitten, die aus heutiger Sicht ein absolutes „no go“ sind. Aber – wurden wir wegen unserer braunen Rollkragenpullis in den 70ern gehänselt? Lästerten die Freunde über den Vokuhila in den 80ern oder fiel nur ein böses Wort aufgrund des neon-pinken Shirts in den 90ern? Nein. Weil die Gesellschaft genau diese heutigen Modesünden zur damaligen Zeit als „schön“ akzeptiert hat.
Heute nicht mal mehr Lichtdouble
Wer eine Art Paradebeispiel für die Verkörperung eines Schönheitsideals sucht, das heute nicht mehr gilt, der stößt unweigerlich auf Marilyn Monroe. Eine – bei aller Wertschätzung – durchschnittliche Schauspielerin, die allein durch ihr Äußeres zu einer Ikone geworden ist. Um genauer zu sein: von den Studiobossen der damaligen Zeit dazu gemacht wurde.
Platinblond, auslandende Hüften, Wespentaille, schüchterner, fast unterwürfiger Augenaufschlag – so etwas wie die Blaupause der Männerträume der 40er und 50er Jahre. Warum genau dieses Aussehen, den damaligen Zeitgeist traf? Ganz einfach: Der Weltkrieg war vorbei. Die Gesellschaft hatte schlimme Jahre voller Verzicht hinter sich. Eine wohlgenährte Frau mit üppigen Kurven, die noch dazu das Leben leicht zu nehmen schien, in niemandem etwas Böses sah oder ahnte und sich gerne an eine vermeintlich starke Schulter anlehnte, passte exakt in die Wunschvorstellung der damaligen Zeit. Mit den heutigen Maßstäben der Filmindustrie würde die Monroe wahrscheinlich noch nicht einmal einen Job als Lichtdouble bekommen.
Mit „Twiggy“ folgte quasi der direkte Gegenentwurf zu Schauspielerinnen im Stil einer Marilyn Monroe. Lesley Lawson – so der richtige Name des ersten Magermodels – war aber nicht der Anfang, sondern bildete das Ende einer Entwicklung. Der Krieg lag fast eine Generation zurück. Hunger war nur noch das Problem einiger weniger und man verschloss auch nicht mehr die Augen vor unangenehmen Nachrichten. Dazu kamen die Frauenbewegung und die Demonstrationen für Gleichberechtigung und Emanzipation. Frauen wollten nicht mehr dem gängigen Ideal vom braven, naiven Hausmütterchen entsprechen. Sie hatten Ecken und Kanten und genau das sollte auch gezeigt werden. Rundungen waren genauso verpönt wie Röcke, die zu lang waren und zu viel verdeckten. Frauen eroberten sich Stück für Stück ihre Selbstständigkeit und genau diesem Trend entsprach das Schönheitsideal.
Ein monogeschlechtliches Thema?
Man könnte diese Liste nun fast endlos verlängern. Die 80er Jahre, in denen Fitness in den Vordergrund rückte, eine gewisse Weiblichkeit aber nicht fehlen durfte und deshalb Supermodels wie Elle Mapherson („The Body“) den Laufsteg eroberten. Oder die 90er, die für Spaß und Sorglosigkeit stehen und in denen der Unterschied zwischen Männern und Frauen scheinbar immer kleiner wurde. Dafür stehen hagere Figuren mit fast kindlichen Proportionen, die durch Models wie Kate Moss nach außen getragen wurden.
So unterschiedlich all diese Schönheitsideale auch sein mögen, sie werden von einer Tatsache vereint: Es geht immer nur um Frauen. Natürlich gibt es in jeder der genannten Dekaden auch Männer, die in einer gewissen Weise einem Ideal entsprochen haben. Aber – sind wir mal ehrlich – so groß sind die Unterschiede, die wir da vorfinden, nicht. Natürlich sah ein James Dean anders aus als es heute Georgs Clooney tut und natürlich sind Sylvester Stallone und Arnold Schwarzenegger Ikonen der 80er Jahre, wohingegen die WG der Nerds aus „The Big Bang Theory“ für unsere heutige Zeit stehen, aber dennoch ist da immer noch der Unterschied, dass es bei den Herren der Schöpfung über weite Strecken der letzten Jahrzehnte eher um die inneren Werte ging. James Dean, der gerne weich gewesen wäre, es aber nicht sein durfte, Stallone, der „ganze Kerl“ ohne Angst und Skrupel und Dr. Leonhard Hoffstetter, in den sich die Serienschönheit „Penny“ nur aufgrund seiner inneren Werte verliebt.
Es ist nicht von der Hand zu weisen: Schönheitsideale und das Nacheifern dieser war über eine sehr lange Zeit hinweg ein monogeschlechtliches, ein weibliches Thema, das sehr eng mit der Frage der Emanzipation und einem männlich geprägten Gesellschaftsbild zusammenhängt. Erst in den letzten 20 Jahren hat sich das geändert.
Ideale auch für Männer
Denn auch Männer haben inzwischen die Mode entdeckt und nicht wenige eifern inzwischen gewissen männlichen Schönheitsidealen genauso nach wie es Frauen seit Jahrhunderten tun. Der Hipsterbart, der Waschbrettbauch, die richtigen Schuhe zu den richtigen Jeans. Männer haben Schönheitstrends und Schönheitsideale für sich entdeckt.
Das erkennt man aber nicht nur daran, dass die Zahl der Beautyprodukte für Männer in den letzten Jahren fast schon dramatisch angestiegen ist, sondern auch daran, dass immer mehr Männer sich regelmäßig „unters Messer legen.“
Denn Schönheits-OPs waren noch bis vor ein paar Jahren eine reine Frauendomäne. Männer, die sich die Lider unterspritzen oder das Fett absaugen lassen? Kein Gedanke. Dass sich das geändert hat, zeigen die Zahlen, der Vereinigung der Deutschen Ästhetisch-Plastischen Chirurgen (VDÄPC). Im Jahr 2018 betrug der Anteil der Männer, die sich einer Schönheits-OP unterzogen haben bereits 12,5% (https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/94803/Zahl-der-Schoenheitsoperationen-weiter-gestiegen). Mehr als nur ein zarter Hinweis, dass auch Männer inzwischen vom „Schönheitsideal-Fieber“ ergriffen wurden. Aber sie haben ja auch einiges nachzuholen.
Und die Individualität?
Bei all den Gedanken rund um Körperformen, Haarfarben und -längen, Schuhe und Accessoires und ob man einem Trend nachläuft oder einem Schönheitsideal entspricht, bleibt die Frage, wo bei all dem die Individualität bleibt. Zum Glück ist die Antwort darauf so kurz wie simpel: Bei jedem Einzelnen.
Jeder Mensch, ob Mann oder Frau, hat zum Glück die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, ob er oder sie sich einem Schönheitsideal anpassen will oder nicht. Jeder darf auf seine individuelle Art schön sein. Denn die liegt ja zum Glück im Auge des Betrachters. Und wenn die Konsequenz daraus ist, dass ein Topmodel wie Cara Delevigne bei ihrem nächsten Achselhaarfoto keine Perücke mehr trägt, sondern Echthaar, dann ist das eben so. Wer weiß – vielleicht hat sie damit schon einen Trend gesetzt, der sich irgendwann zum Schönheitsideal entwickelt?